Harald Kimpel

 

Zur Eröffnung der Ausstellung Norbert Pümpel: Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten

 

15. November 2018

 

"There's a crack in everything"

 

Auch der Kunstbetrieb ist nicht mehr das, was er einmal war. Betrachtet man repräsentative Großveranstaltungen wie documenta oder Manifesta, aber auch lokaler ambitionierte Ausstellungen, so gewinnt man den Eindruck der Vorherrschaft einer Kunst, die primär – und unter weitgehendem Verzicht auf ästhetische Qualitäten – das tagesaktuelle Lamento über die vielgestaltigen gesellschaftlichen Miseren der Gegenwart anstimmt. „Problembeweinungskunst“ habe ich (bei anderer Gelegenheit) einmal genannt, was sich da mit moralischem – und weniger ästhetischem – Anspruch als Betroffenheitsbekundungen dem Elend der Welt widmet.

 

Zu beobachten ist dabei ein erstaunliches, geradezu naives Zutrauen in die visuellen Ausdrucksmethoden. In Zeiten von Fake News, „Lügenpresse“-Verdacht und allgemeinem Misstrauen in massenmedial transportierte Informationen sollen ausgerechnet die künstlerischen Ausdrucksmittel (die doch traditionell auf Schein, wenn nicht gar auf Augentäuschung aus sind) in der Lage sein, gesellschaftliche Wirklichkeit (um nicht zu sagen: Wahrheit) adäquat zu vermitteln. Allenthalben macht sich eine neue Bildergläubigkeit breit, die uns glauben machen will, eine Fotografie, ein Video, ein Gemälde könne soziale Realität glaubwürdig fixieren. Da ist nichts mehr zu spüren von Medienkritik oder emanzipatorischen Bemühungen, die Funktionsweisen der künstlerischen und nichtkünstlerischen Kommunikationsformate kritisch zu reflektieren und zu analysieren. Kunst wird hochgehalten als Garantin der Wahrheit in der Ära alternativer Fakten. Kein Gedanke daran, dass doch heutzutage den Glücksversprechen wie den Elendsbebilderungen gleichermaßen zu misstrauen ist.

 

Was hat das nun alles mit Norbert Pümpel zu tun?

Glücklicherweise gar nichts!

 

Denn seit jeher hat sich dieser Künstler einer prompten Bedienung des Zeitgeistes und angesagter ästhetischer Pflichtübungen enthalten – nicht um sich der Aktualität zu entziehen, sondern um sich von einer anderen Position aus umso überzeugender, grundsätzlicher und aktueller artikulieren zu können. Sein Werk, das sich seit den 1970er Jahren in verschiedenen Facetten entwickelt, ist einer tiefergehenden Aktualität verpflichtet als der momentgebundenen, die ja jederzeit von einer neuen Entwicklung entwertet werden kann. Unabhängig von gängigen Moden argumentiert Norbert Pümpel dauerhaft auf einem Niveau, von dem aus die sich immer wieder verschiebenden Fundamente des modernen Wirklichkeitsverständnisses in den Blick genommen werden können.

 

In Norbert Pümpels Verständnis ist die Wirklichkeit eine Konstruktion: eine Kernbehauptung, die auch bildtitelwürdig geworden ist. Das macht nun aber das künstlerische Anliegen, sofern es sich der Idee der Wahrheit verpflichtet fühlt, nicht leichter. Denn – so ebenfalls ein Bildtitel –: „Ein a priori wahres Bild gibt es nicht.“ Auch das Bild – jedes Bild – ist also ein Konstrukt. Wirklichkeit und Abbild sind in gleicher Weise Erfindungen, von uns gemacht, damit wir uns in der Welt zurechtfinden können.

 

Und damit sind wir konkret bei der Ausstellung angelangt, die wir heute eröffnen. Denn diese Grunderkenntnis liegt auch ihrem Titel zugrunde. Und der gestaltet sich – wie könnte es bei Norbert Pümpel anders sein – etwas komplexer, als wir es von anderen Kunstausstellungen gewöhnt sind:

 

„Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten.“

 

Dieser Titel ist mal in Anführungszeichen, mal kursiv gesetzt. Und der Künstler ist so freundlich uns die Quelle des Zitats zu nennen: Ludwig Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ (1949). WER oder WAS ist aber dieses SIE, das da gleich drei Mal im Titel aufscheint? Gemeint ist (zumindest nach meinem Verständnis) die WELT, genauer: die Welt jener Zeichen, die wir uns kreieren, um uns die Welt erklärbar zu machen, und die wiederum unser Bild von ihr bestimmt. WIR, also tatsächlich ICH und DU und JEDER und JEDE – wir schaffen uns eine je eigene Welt nach unseren Vorstellungen. Wenn also die Wirklichkeit eine Konstruktion ist, dann ist – im Umkehrschluss – die Konstruktion allemal eine Wirklichkeit.

 

Und mit solch konstruierten Bild-Wirklichkeiten haben wir es bei den Arbeiten Norbert Pümpels zu tun. Der ihnen zugrunde liegende, naturwissenschaftlich abgesicherte Realitätsbegriff ist (verkürzt gesagt) ein quantenphysikalischer – also einer, der vom Prinzip der grundsätzlichen Unsicherheit, Unbeständigkeit und Relativität ausgeht. Seine Bilder (nennen wir sie der Einfachheit halber weiterhin so) sagen die Wahrheit, indem sie die Möglichkeit dazu negieren.

 

Ihr immer wieder auftauchendes Grundthema ist der Prozess der Entropie: das Wissen davon, dass sich der gegenwärtige Zustand der Ordnung im Universum – also das Geronnensein der sichtbaren Welt zu Objekten und Sachverhalten – ein extrem unwahrscheinlicher Zustand ist. Als solcher unterliegt er permanent der Tendenz zur Auflösung dieser Ordnung, zur Gleichverteilung aller Elemente. Populär ausgedrückt: Alles geht den Bach runter…

 

Seit Jahren kümmert sich Norbert Pümpel künstlerisch um das, was die Welt zusammenhält – oder besser: was sie zersprengt: Das missbrauchte Atom, die Folgen seiner Anwendung, die naturwissenschaftlichen Innovationen und deren ethische Konsequenzen stecken den Themenhorizont ab. Den Künstler interessieren nicht die visuellen Flüchtigkeiten gegenständlicher Oberflächen und Dingeigenschaften, sondern die prozessualen Flüchtigkeiten der Thermodynamischen Gesetze, der Relativitätstheorie, der Unschärferelation und der Quantenmechanik.

 

Für derartige Anliegen ist Norbert Pümpel besonders kompetent, beherrscht er doch – als eine Art pictor doctus – nicht nur das künstlerische Handwerk, sondern ist gleichermaßen bewandert in Mathematik und Physik, in Philosophie und – nicht zuletzt – auch Theologie. Mit dieser Ausrüstung blickt Norbert Pümpel unter die sichtbaren Oberflächen, hinter den Schein der Dingwelt – und erblickt dort Entropie, Unbestimmbarkeit, Chaos, Vorläufigkeiten und allerhand Zweifelsfälle. Seine Visualisierungen dieser Befunde stellen Fragen – und sie stellen in Frage. Sie fragen nach den Möglichkeiten der Erkenntnis im Allgemeinen und nach denen des Bildes im Besonderen. Und mit den Wahrscheinlichkeitsbehauptungen zur Instabilität der Materie verbindet sich zugleich die Frage nach dem Mahn- und Warnpotential, das diesen visuellen Strukturen eingeschrieben werden kann.

 

Die Inkunabel dieses Welt- und Bildverständnisses ist (zumindest nach meinem Empfinden) noch immer das radikale, monumentale Tableau „Wahrscheinliche Aussage zu einem Guernica des 20. Jahrhunderts“: ein künstlerischer Kraftakt, der im 21. Jahrhundert nichts an Aktualität verloren hat. Unter Bezugnahme auf Pablo Picassos „Guernica“-Gemälde von 1937 will Norbert Pümpels gezeichnete Zustandsbeschreibung von 1982 vor Augen führen, was wäre, wenn sich aktuelle Destruktionstechnologie mit politischem Amoralismus verbindet. Denn sollte sich ein Ereignis wie das von Guernica heute wiederholen, kann dessen künstlerische Bearbeitung nicht mehr zu einer expressiv-pathetischen Formensprache kommen. Nichts Abbildbares würde übrig bleiben – außer dem Nichts selbst, und eben das, die umfassende Gestaltlosigkeit, gewinnt in diesem Werk überzeugende Gestalt.

 

Von diesen mit Körpereinsatz vorgetragenen visuellen Exerzitien über die Möglichkeiten der totalen Auslöschung führt die Spur der Zeichen direkt zu den Exponaten unserer Ausstellung: zu Beispielen aus neueren Werkgruppen – wie jenen Bildern, die sich den menschengemachten Katastrophen im Südpazifik widmen: als konkrete Bezugnahmen auf atomare Ereignisse in der Frühzeit des leichtfertig-zynischen Umgangs mit der technologischen Entwicklung. „South Pacific Desaster“: dazu gehört unter anderem jene „Operation Crossroads“, die 1946 mit den Test-Explosionen „Able“ und „Baker“ das Bikini-Atoll mit katastrophalen Folgen für Menschen und Umwelt kontaminierte und physisch zerrüttete.

 

In diesem thematischen Zusammenhang tauchen neuerdings sogar Spuren eines konkret-abbildhaften Wirklichkeitsbezuges auf: jene Krater-Bilder, die unter (für Norbert Pümpel relativ seltener) Heranziehung von Fotografie entstanden sind. Die neue Bildserie zeigt den „Sedan Crater“, entstanden 1962 in der Nähe von Las Vegas als Folge einer unterirdischen Versuchsexplosion zur angeblich friedlichen Nutzung der Atomkraft: zur Bewegung großer Erdmassen. (Mit 106 m Tiefe, 400 m Durchmesser und 12 Millionen Tonnen bewegten Gesteins wahrlich ein Erfolg zu nennen!) Das Codewort für dieses Erfolgsprojekt entlarvt allerdings die wohl nicht ganz so friedlichen Absichten – ist doch Sedan bekannt geworden als jene Schlachtstätte, die der 1. Weltkrieg in eine mondartige Kraterlandschaft verwandelte. Die negativen Vulkankegel in Norbert Pümpels Kunstprojekt sind jedoch mehr als nur Löcher im Erdboden. Es sind die Narben, die der Gebrauch des atomaren Wissens in der Welt hinterlassen hat: die Abgründe, die sich auftun, wenn Warnungen in den Wind geschlagen werden.

 

Die Beschäftigung mit diesem physikalisch-chemischen, aber auch humanen Katastrophengeschehen mündet schließlich in das Fazit (und so steht es in mehreren Bilder geschrieben): „Die Moderne taugt nicht zwingend zur Verbesserung der Welt“ – eine Fundamentalkritik, die vom technologischen auf den kulturellen Sektor übertragen lauten könnte: Kunst und Kultur haben noch nie die Barbareien in der Welt verhindern können. Vielleicht aber können sie hin und wieder dazu beitragen, die Wahrheit über das nicht zu verhindern Gewesene zum Ausdruck zu bringen.

 

Unsere Ausstellung versammelt Arbeiten aus mehreren Jahrzehnten. Sie beginnt mit den frühen Strukturen der 1970 Jahre, und sie reicht bis zu den Bildern und Objekten von 2018. Hier sind es vor allem Visualisierungen parallel zu Wittgensteins „Tractatus“. Die dort getroffenen wortsprachlichen Aussagen verbinden sich mit den bildsprachlichen des Künstlers: nicht als Vergegenständlichungen der Texte, sondern als Nachvollzug von deren Modellbildung im anderen Medium. Geht es Wittgenstein um die Grenzen der Sprache und der Erkenntnis, geht es Norbert Pümpel um die Grenzen der Abbildung und der Erkenntnis. Diese Bandbreite der Ausstellung macht die beeindruckende Konsequenz (gepaart mit analytischer Schärfe) deutlich, mit der Norbert Pümpel über einen langen Zeitraum hinweg ein Werk entwickelt hat, das in immer neuen Ansätzen das energetische Feld im Dreieck zwischen Naturwissenschaften, Philosophie und bildender Kunst visuell abtastet.

 

Die Sondierungen im künstlerisch/wissenschaftlichen Zwischenreich bringen jene charakteristische Unschärfe hervor, die gerade bei der Suche nach Klarheit in Kauf zu nehmen ist. Bereits der Soziologe Pierre Bourdieu erkannte sie als notwendige Begleiterscheinung des wahrheitssuchenden Blicks: „Wenn man wirklich die Welt ein bißchen so sehen und so über sie reden will, wie sie ist, dann muss man akzeptieren, daß man sich immer im Komplizierten, Unklaren, Unreinen, Unscharfen usw. und also im Widerspruch zu den gewöhnlichen Vorstellungen von strenger Wissenschaft befindet.“ Mit dem demonstrativen Bekenntnis zu diesen tiefgehenden Unschärfen leistet Norbert Pümpel seinen Beitrag zu einem künstlerischen Verfahren, das als „Wissenschaftsästhetik“ bezeichnet werden kann: eine Praxis, die für die Methoden und Erkenntnisse der Bezugsdisziplin ein eigenständiges künstlerisches Vokabular erfindet. Doch die Möglichkeit, diese Kunst-Bilder (über die Wegweisung ihrer Titel) in einen naturwissenschaftlichen Kontext zu stellen und sie aus diesem heraus zu interpretieren, macht sie freilich nicht zu Bebilderungen der wissenschaftlichen Sachverhalte. Heisenberg, Boltzmann, Planck, Schrödinger und immer wieder Wittgenstein sind die namhaften Paten dieser Kunst, die jedoch keine Lehrbuch-relevanten Illustrationen liefert. Norbert Pümpels Wissenschaftsästhetik zielt stattdessen auf die visuelle Inszenierung wissenschaftlicher Verfahren und Resultate jenseits des Bildgebrauchs, den die jeweilige Bezugsdisziplin für ihre internen Verständigungszwecke ausbildet.

 

In einigen Fällen sind nun aber die zu bezeichnenden Sachverhalte so gelagert, dass für den Künstler nur die Formel – eingeschrieben ins Bild – das Mittel der Wahl darstellt: eine jener Formeln, für die allerdings (und neuerdings) durchaus auch die Kategorie der Schönheit reklamiert wird. Der österreichische Quantenphysiker Anton Zeilinger ist es (und vor ihm haben es schon andere getan), der von der „fantastischen Schönheit“ spricht, die er einer Formel dann zugesteht, wenn sie auf knappest mögliche (und somit elegante) Weise ein Maximum an Aussage transportiert: eine Poetisierung des Naturwissenschaftsbetriebs, die eine im 20. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geratene ästhetische Kategorie für sich reaktiviert. Die Problematik solchen Schönheitsempfindens – das gibt auch Zeilinger zu – ist jedoch, dass es nur mit entsprechender wissenschaftlicher Vorbildung nachvollziehbar ist, die nun leider noch nicht Teil des Allgemeinwissens sei. Mit dieser tragischen Schönheit argumentiert auch Norbert Pümpel, wenn er in einem Bild wie „Die Katze Schrödingers oder das Ende der Bilder“ die Formel selbst in die visuelle Struktur implantiert: eine schöne Ausdrucksweise für den an sich eher unschönen Sachverhalt der zugleich lebendigen und toten Katze in Erwin Schrödingers burleskem Gedankenspiel.

 

Besonders deutlich wird das allesdurchdringende Vorläufigkeitsprinzip, dem jegliches Sein unterworfen ist, bei den umfangreichen Serien der „Fleeting Memorials“ (hier nicht ausgestellt) und der „Kondensate“: zwei Ausflüge auf jenes Feld, in dem die Einflussnahme des Künstlers auf sein Werk aufgegeben wird, indem er es nicht als definitives Objekt konzipiert, sondern als fluiden Prozess in Gang gesetzt hat. In den „Fleeting Memorials“ – Bilder, die mit der Zeit gehen – findet sich individuelles menschliches Leben parallelisiert zum Leben der Kunstwerke. Wie im Schicksal der Menschen geht auch der Alterungsprozess im Bild unmerklich, aber unaufhaltsam vonstatten: Ende offen… oder Ende absehbar…

Und auch in den „Kondensaten“ entwickelt sich das Bild als sich selbst organisierende Struktur: als ein amorpher, nichtmimetischer Nebel aus unterschiedlichen Zutaten, dessen undeterminierter Verlauf unvorhersehbare Form annimmt. Die Skepsis gegenüber dem Konzept der Endgültigkeit gebiert Zeugnisse der Unmöglichkeit – und zugleich der Preisgabe der Absicht – die Dinge dingfest zu machen.

 

Relativ neu ist nun, dass sich Norbert Pümpels wissenschaftlich-philosophischer Ansatz nicht nur im Zweidimensionalen, sondern verstärkt auch im Skulpturalen ausdrückt. Skulptur – so scheint mir – ist allerdings nicht der richtige Ausdruck. „Formale Ereignisse im Raum“ möchte ich nennen, was hier auf dem Boden oder auf dem Sockel jene Fragestellungen aufgreift, die auch in den Bildern angelegt sind. Die Auflösung der zusammenhängenden Bildfläche in dreidimensionale Elemente mit variabel fluktuierenden Arrangements erlaubt es unter anderem, die Flüchtigkeit der Konstellationen handgreiflicher zu artikulieren. In diesem Zusammenhang verweist die Versuchsanordnung mit dem Wittgenstein-Titel „Und sieht das Kind die Kiste nun als Haus?“ auf die im Gesamttitel der Ausstellung thematisierten optionalistischen Weltsichten: Wenn ein Kind ein kubisches Objekt als Haus sieht und deutet, dann ist es eines.

 

Und auch in der Welt der Objekte findet sich die Rückkopplung an das Leitmotiv der wissenschaftlichen Katastrophen: Bei „Trinity“ (jenem dunklen Block) liegt spontan eine religiös-christologische Bedeutungsdimension nahe. Doch bindet sich das Objekt mit den gefährlichen Nägeln zugleich ein in den atomaren Themenstrang – war doch „Trinity“ auch der Codename für die erste US-amerikanische Kernwaffen-Test-Explosion in New Mexico, ein Deckname, der natürlich seinerseits auf die Heilige Dreieinigkeit rückverweist und das Bewusstsein der Betreiber von der existentiellen Dimension ihres Tuns beweist.

Andere Objekte aus Holz (mit ihren unterschiedlichen Bedeckungen, Einhüllungen und Ummantelungen) verweisen auf die Dialektik von Verborgenem und Sichtbarem (z. B. „Two Closed Chambers“), von Materialität und Immaterialität oder mit ihren Eingriffen in die ursprüngliche Substanz auf die Dialektik von Verletzung und Heilung, auf das Fehlende und seinen Ersatz. Natürliche oder künstlich erzeugte Fehlstellen – Sprünge, Risse oder Einschnitte – sind verfüllt mit fremder Materie. So entstehen antagonistische Materialkonstellationen, mit denen sich nichtsdestoweniger der Anspruch verbindet, als „Kosmologische Modelle“ wahrgenommen zu werden. Denn – so das Fazit dieser Konfigurationen: Wirklichkeit ist immer nur als Überlagerung und Durchdringung einander widersprechender Systeme angemessen denk- und beschreibbar.

 

In allem gibt es einen Sprung, sang Leonard Cohen, und genau da dringt das Licht herein („There’s a crack in everything / That’s how the light gets in“). Es braucht also die Bruchstelle, damit Aufklärung (Erhellung? Erleuchtung?) möglich wird. Anders gesagt: Es muss erst unser festgefügtes Weltbild zerbrechen, damit wir etwas von der wahren Natur der Welt erfahren können.

 

Einer Welt, die es gewohnt ist, von Kunst entweder pathetische Sozialreportagen oder aber Zerstreuung und Unterhaltung zu erwarten, begegnet Norbert Pümpel mit einer denkerischen Leistung, die in eine visuelle mündet – und deren Unterhaltungswert gering ist. Umso größer ist ihr Erkenntniswert, den wahrzunehmen uns der Künstler zumutet.

 

„Das Schwerste ist“ – so Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen – „die Unbestimmtheit richtig und unverfälscht zum Ausdruck zu bringen“. Norbert Pümpel hat sich diesem Schwersten immer wieder gestellt und es in seinen Visuellen Untersuchungen zumindest versucht.

 

Der Physiker, wenn er sich verständigen will, sagt „e = mc²“ – und damit ist alles gesagt…

Der Philosoph sagt „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ – und damit hat er alles gesagt…

Der Theologe zitiert „Ich bin, der ich bin“ – und damit ist alles gesagt…

Der Künstler gestaltet eine Fläche und schreibt dazu „Ein a priori wahres Bild gibt es nicht“ – und damit hat er die ganze Wahrheit gesagt.

Nur der Kunstwissenschaftler oder -kritiker, oftmals zum Partner des Künstlers bestellt, muss sich um Worte bemühen, die bestenfalls Annäherungen an das vom Künstler veranstaltete visuelle Geschehen sein können.

 

Viel wäre daher noch zu sagen – doch es bleibt letztlich nichts anderes übrig, als das Wort wieder an den Künstler zurückzugeben. So soll auch hier und heute die Kunst das letzte Wort behalten. (Zumindest vorläufig…)

 

Kunsttraum Innsbruck 2018

 

Kunsttraum Innsbruck 2018

 

Kunsttraum Innsbruck 2018

 

Plutonium Winter I, 2018

 

Plutonium Winter II, 2018

 

Cadmium Sky I, 2018



Norbert Pümpel

 

begann seine künstlerische Laufbahn Ende der 1970er Jahre im Bereich der Concept Art. Eine Ausbildung an einer Kunstakademie lehnte er ab und studierte Mathematik, Physik und Philosophie (ohne Studienabschluß). Als Autodidakt erarbeitet er Bildkonzepte im Grenzbereich zu den Wissenschaften. „Pümpel beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit philosophischen und naturwissen­schaftlichen Problemkreisen, die in seiner konzeptionell orientierten Kunst bildhafte Form erhalten. Raum-Zeit-Probleme, die seit dem frühen 20. Jahrhundert Künstler intensiv beschäftigen, materielle Erscheinungsformen, Fragen der Quantenphysik und Wahr­schein­lichkeits­theorie bestimmen sein Denken als Künstler“ (Christoph Bertsch, 2007). Zunächst entstehen entropische Zeichnungen (ab 1976), Laserprojekte (1980), über die Theorie der schwarzen Löcher (1981) oder zu Schrödingers Katzenparadoxon (2005/2008).

 

Reality has evaporated

„Seit den 1970er Jahren hat er ein Werk entwickelt, das im Grenzgebiet von Naturwissenschaft, Philosophie und auch Theologie in immer neuen Gedankenspiralen die alte Frage nach den Möglich­keiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis sowie – damit verbunden – den Möglich­keiten des Bildes und dessen Leistungsfähig­keit gegenüber der Wirklich­keit umkreist.“ (Harald Kimpel, 2011)

Die zunächst physikalischen Fragestellungen weichen immer mehr erkenntnistheoretischen und philosophischen: evident ist, dass der Künstler als Teil des Universums über dieses und sich selbst reflektiert: Part of Universe Reflecting Part of Universe (2004), eine erstmals in der von Christoph Bertsch zusammengestellten Ausstellung Kraftwerk Peripher im Kraftwerk Imst/Au ausgestellte Bildserie von kleinen Bildpaaren. Einige dieser Diptichen sind heute in der Sammlung Liaunig.

Immer wieder entstehen friedenspolitische Arbeiten: zunächst die monumentale Zeichnung Wahrscheinliche Aussage zu einem Guernica des späten 20. Jahrhunderts (1982). „Als N. Pümpel 1982 unter dem Titel „Wahrscheinliche Aussage zu einem Guernica des späten 20. Jahrhunderts“ ein unendliches Panorama der Entropie entfaltete, war für seine weitere künstlerische Arbeit ein End- und Ausgangs­punkt zugleich gegeben. So total hatte der Künstler mit seiner radikalen Aussage über die möglichen Folgen von Praxis gewordener Theorie das Sichtbare beseitigt, so grundlegend bei der Gestaltung der Gestaltlosigkeit jede Form vernichtet, dass nach Abbildung des unwiderruflichen Chaos­zustands nichts Abbildbares mehr übriggeblieben war. Das Gerüst der Materie selbst war hier geborsten, um ein für allemal in universale Unordnung aufgegangen zu sein. Zu einem biographisch frühen Zeitpunkt also hatte der Künstler mit seinen Ansichten des Nichts sich in eine Extremposition gesetzt vor deren Exponiertheit jede Form einer konstruktiven Weiterarbeit zutiefst in Frage gestellt sein musste.“ (Harald Kimpel, 1990)

Das Thema der nuklearen Bedrohung beschäftigt den gelernten Physiker immer wieder: 1989 entstehen Aschenbilder über Hiroshima und Nagasaki: die  erste Scientific Disaster Serie (1990). Auch zwischen 2009 und 2011 greift Pümpel unter dem Titel Nuclear Solstice mit großformatigen Papier­arbeiten das Thema der Nukleartests in den 1940er und 1950er Jahren wieder auf. Diese Werkgruppe ist mit fünf großen Blättern in der Sammlung Liaunig vertreten.

Bei der jüngsten Arbeits­gruppe greift Pümpel die Arbeitsmethodik der Natur­wissen­schaften wieder auf und entwickelt, mit den Kondensaten, in laborartigen Versuchs­reihen sich selbst organisierende Bildsysteme. „Die Arbeiten beschreiben Wahr­scheinlich­keitszustände, die in neuen Aggregatzuständen räumliche Strukturen verwischen und ein liquides, flüchtiges, wellen­dynamisches Bild der Welt zeichnen.“ (Harald Kimpel, 2014) 

Anna Fliri

in: Sammlungskatalog II, Zeitgenössische Kunst II

Museum Liaunig, Neuhaus, 2015

Atelier Norbert Pümpel in Hohenems Otten Wirtschaftspark, 2014

 



Harald Kimpel

Man blickt nicht zweimal in dasselbe Werk

 

Als Norbert Pümpel 2012 mit einer Serie von Papierarbeiten beginnt, die auf die Zahl der Menschen Bezug nimmt, die zu einem exakt benannten Zeitpunkt auf der Erde leben, verknüpft er allgemeingültige physikalisch-chemische Sachverhalte mit individueller Existenz; sie setzt das im Einzelnen sich verkörpernde Problem der Endlichkeit in Relation zu unpersönlichen natürlichen Abläufen.

Das visuelle Geschehen entwickelt sich auf dem Trägermaterial jeder Versuchsanordnung – doppelt geschichtetes chinesisches Reispapier – im Rahmen eines annähernd quadratisch angelegten Ereignisfeldes. Jede Arbeit weist eine Datumsangabe auf – die den Tag ihrer Entstehung benennt – sowie eine zehnstelligen Ziffer – die die für dieses Datum offiziell errechnete Weltbevölkerung protokolliert. Einer von mehr als 7 Milliarden Menschen ist damit angesprochen, ein anonymes Exemplar aus der Menge der an diesem Tag Geborenen. Ihm gilt dieser Sonderfall des Porträts, eines abbildungsfreien Bildnisses, das physiognomische Ähnlichkeit verwirft, um eine strukturelle zu verdeutlichen. Die einzelnen Realisate der Serie variieren in ihrer Farbgebung wie auch leicht in der Größe – so wie auch menschliche Individuen sich unterscheiden, aber morphologisch doch vergleichbar sind.

Die kalendarische Angabe markiert statt der Vollendung der Arbeit den Beginn des Entstehungsvorgangs. Sie benennt den Geburtstag des Werkes, das von nun an seiner Reise in den Zerfall überlassen ist. Denn die spezifische Materialität hat zur Folge, dass das Objekt, dem Verschleiß durch Umwelteinflüsse ausgesetzt, im Laufe von Jahrzehnten sich verändert – bis hin zur möglichen Selbstauslöschung. Die Blätter thematisieren damit den physikalischen Sachverhalt der Entropie – jedoch nicht indem sie den thermodynamischen Prozess symbolisch oder narrativ repräsentieren, sondern ihn unmittelbar an sich selbst manifest werden lassen. Sie sind adäquater Ausdruck jenes Vorgangs, den sie mit dessen eigenen Mitteln ausdrücken. Veränderung und Hinfälligkeit werden als Funktion zeitbedingter Existenz sichtbar.

An Blatt und Mensch vollzieht sich also dasselbe Geschehen: Beide sind vergleichbaren Entwicklungen ausgesetzt, beide einer begrenzten Lebensdauer unterworfen; der ästhetische Zustand in einem gegebenen Moment ist so unkalkulierbar, so abhängig von Zufallsfaktoren wie die Existenz des bezifferten Individuums. Indem Norbert Pümpel auf die Formulierung eines definitiven Werkstadiums verzichtet, überlässt er es den äußeren Einflüssen, wie sich die ästhetische Verfassung im Einzelnen entwickelt.

Da der sich selbst limitierende Gegenstand einer unaufhaltsamen Alterung unterliegt, ist er frei von Illusionismus. Das Bild zeigt, was es ist: nicht Schein der Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit; das einzelne Blatt täuscht nichts vor, sondern präsentiert, thematisiert und verkörpert – soweit dies überhaupt möglich ist – Wahrheit, milder gesagt: Wahrhaftigkeit.

Norbert Pümpels prozesshafte Arbeiten, die das Phänomen Zeit unmittelbar erlebbar machen, bedeuten eine langfristige Variante autodestruktiver Kunst: eine Absage an die mit kreativer Arbeit traditionell verbundenen hypertrophen Ewigkeitsansprüche – oder doch zumindest der Idee des Überlebens der eigenen Biografie –, ein Konzept gegen das Überdauern. Es ist eine Kunst, die das Gegenteil von dem will, worauf künstlerische Anstrengungen traditionell aus sind: Dauer, Zeitenthobenheit, werden hier verworfen. Der konservative Kunstanspruch, vom panta rhei ausgenommen, materiell wie ideell aus dem Strom des Ephemeren herausgelöst zu sein, wird negiert. In ihrem sukzessiven Fortschritt sind die einzelnen Realisate nicht mehr darauf aus, sich der Vergeblichkeit allen Tuns zu entziehen. Es sind lebende Objekte in dem Maße, wie sie geschichtsfähig sind: wie sie eine Biografie – wenn nicht gar ein Schicksal – aufweisen. Nicht die Ausschaltung von Zeitlichkeit ist das Ziel dieser Serie, sondern die Partizipation an ihr und ihren Folgen. Jedes Blatt trägt seine Geschichte in sich eingeschrieben, es nimmt Teil an der allgemeinen thermodynamischen Bewegungsrichtung, die keine Umkehr kennt; jedes Blatt eine Vanitas-Reflexion, indem es die Idee der Vergänglichkeit an sich selbst vollzieht: Bekenntnis zur Unvollkommenheit, zur Vergeblichkeit auch des künstlerischen Tuns.

Nun sind allerdings die unmerklich vonstattengehenden Modifikationen des Koloristischen wie des Substantiellen durch Anschauung nicht unmittelbar nachzuvollziehen; sie erschließen sich der Wahrnehmung erst im allmählichen Umgang. Denn kein Weg führt zurück: Die Nichtwiederherstellbarkeit eines vergangenen Zustands macht jeden Augenblick einmalig. Auch der Künstler kann und muss das Schwinden seines instabilen Produkts mit(er)leben.

Aber nicht nur das Bild ist immer ein anders. Auch der Künstler selbst und die Betrachtenden bleiben nicht dieselben, modifizieren sich zeitgleich mit dem Betrachteten: Niemand blickt zweimal in dasselbe Werk.

Das Kunstwerk, das sich nicht vom Leben abhebt, sondern an ihm teilnimmt, indem es eine wesentliche Eigenschaft – seine Vergänglichkeit – mit ihm gemeinsam hat, ist somit auch ein Affront gegen die restauratorischen Bemühungen, die sich mit raffinierten Verfahren dem Konservieren noch des bedeutungslosesten mikroskopischen Partikels widmen. Zugleich bedeutet es eine Herausforderung für Kunstkäufer, etwas zu erwerben, von dem wahrscheinlich ist, dass es ihn nur um ein Geringes überdauern wird – oder aber das den Trost enthält, dass sein Erwerb mit ihm die Last des Alterns teilt (oder vielleicht sogar stellvertretend altern könnte: das Dorian-Gray-Konzept, des Anekdotischen entkleidet und ins Physikalische transponiert).

Die „Flüchtige Erinnerung“, so flüchtig wie die von ihr Gemeinten, addiert sich zu einem befristeten Denkmal für Unbekannte, denen namenlos, als Nummer nur statistische Präsenz zukommt: ein unvollendetes, unvollendbares Memorial, ein in die Zukunft offenes Projekt, tendenziell unabschließbar, ein Menschenleben thematisierend, es im Arbeitsaufwand aber übersteigend. Der Künstler beginnt mit der Serie und sieht, wie weit er damit kommt – jedenfalls zu keinem Ende. Denn das Konzept birgt ausreichend Material für eine komplette künstlerische Existenz. Es liegt daher im Ermessen Norbert Pümpels, wann er die übernommene Verpflichtung für beendet erklärt. Eine natürliche Vollendung der Bildfolge im Sinne einer Notwendigkeit kommt aus quantitativen Gründen nicht in Frage. Willkürlich muss der Künstler die Serie abbrechen, die Arbeit einstellen und den Fortschritt abreißen lassen – im Wissen, dass „die Existenz von der Entropie beherrscht wird, von der Auflösung in Augenblicke und Impulse wie Körperchen ohne Zusammenhang und Form“ und „vom Universum mit all seinen Milchstraßen nichts übrig bleiben wird als ein Wirbel von Atomen im leeren Raum“ (Italo Calvino).

 

Kondensate

Ist bereits das sich selbst auflösende Bild eine Feier der Entropie, so unternimmt Norbert Pümpel in der Werkgruppe der „Kondensate“ einen weiteren Schritt in Richtung einer Rücknahme der Verfügungsgewalt über die eigenen Materialien und zugleich eine weitere Fundierung auf neuere physikalische Weltzustandsmodelle. Sie basiert auf Überlegungen zum Bode-Einstein-Kondensat: zu den unorthodoxen Verhaltensmustern, die Materie im ultrakalten Zustand aufweist. In diesem Bereich werden quantenmechanische Zustände erstmals auch makroskopisch beobachtet und als Wellenfunktion beschrieben. An die Stelle einer diskontinuierlichen Sicht der Welt tritt ein Kontinuum suprafluider Materie, die als Schwingung ohne definierte Örtlichkeit in Erscheinung tritt. Die Arbeiten beschreiben Wahrscheinlichkeitszustände, die in neuen Aggregatzuständen räumliche Strukturen verwischen und ein liquides, flüchtiges, wellendynamisches Bild der Welt zeichnen. „Der in meinem Werk ablesbare unterschied zur quantenmechanischen Auffassung der 1970er- bis 1980er-Jahre und der heutigen Auffassung“, so Norbert Pümpel über den aktuellen wissenschaftsästhetischen Ansatz dieser Werkgruppe, „ist am augenscheinlichsten dadurch zu beschreiben, dass der frühe Stand meines Wissens eine kontinuierliche Welt ‚gequantelter‘ Materie und/oder Energie beschrieb, eine Welt der Strukturen aus diskreten Paketen von Elementarteilchen, Photonen, Energiepaketen.“

Norbert Pümpel, der sich seit Beginn seiner künstlerischen Arbeit während der 1970-er Jahre in die physikalischen Erkenntnisinnovationen (mitsamt deren philosophischen Voraussetzungen und ethischen Konsequenzen) visuell implementiert, gewinnt aus den neuesten Ansätzen zur Beschreibung des Zustands von Materie für sich selbst neue Ansätze einer erkenntnisbezogenen Kreativität. Bei den „Kondensaten“ ist es Ölfarbe – im Zusammenwirken mit „verschiedenen Lösungen und Substanzen“, wie er fast alchimistisch seine Zubereitung auf der Leinwand nennt –, aus der sich im Nebulösen ein aktuelles Weltbild konkretisiert. Die einzelnen Arbeiten entwickeln sich in seriellen Versuchsanordnungen, bei denen das Atelier zum Labor wird, in dem der Künstler wie ein Experimentator agiert.

In diesem Spiel der Flüssigkeiten macht sich das künstlerische Subjekt überflüssig. Unter freiwilliger Reduktion der Optionen tritt der Künstler zurück hinter einen sich selbst organisierenden Organismus, der ihm endgültige ästhetische Entscheidungen aus der Hand nimmt. Als Initiator, nicht Vollender des sich selbst überlassenen Werks, ist er nur noch dazu da, einen Prozess in Gang zu setzen, der sich von diesem Augenblick an eigengesetzlich fortentwickelt. Die Funktion des Künstlers reduziert sich auf die des Katalysators einer Entwicklung, auf deren Ablauf nur im Ursprungsmoment Einfluss genommen werden kann und die ein Resultat erbringt, von dessen Unvorhersehbarkeit er sich selbst überraschen lässt. Er zieht sich zurück auf die demiurgische Rolle eines ersten Anregers, dann des Beobachters seiner Tat – und wird so zum Rezipienten seiner selbst.

Dadurch aber gewinnt eben dieser Moment an Gewicht: als unrevidierbare Initialentscheidung, pathetisch gesagt: als Schöpfungszeitpunkt.

Der Künstler lässt der Kunst ihren Lauf. Irgendetwas geht seinen Gang: Diese Beobachtung in Samuel Becketts „Endspiel“ hatte Norbert Pümpel schon vor Jahren als einen programmatischen Bildtitel gewählt – eine Kunst im Wandel für eine Welt im Wandel, Abbilder im Werden für ein Weltbild im Werden.

Harald Kimpel, Man blickt nicht zweimal in dasselbe Werk in:

art@science Drei Positionen der Wissenschaftsästhetik

Ulysses Belz, Ingrid Hermentin, Norbert Pümpel

Harald Kimpel (Hg.) Jonas Verlag, 2014

Fleeting Memorial 7.126.072.240, 2013

 

Ohne Titel vom 19.1.2014

 

Kondensat QLP B002, 2015



Ein Panorama unendlicher Informationsdichte –

Norbert Pümpel in der Bludenzer Galerie allerArt

 

Die Bludenzer Galerie allerArt zeigt derzeit ein monumentales Bild des aus Tirol stammenden und seit vielen Jahren in Götzis lebenden und arbeitenden Künstlers Norbert Pümpel, das auf Picassos berühmtes Anti-Kriegsgemälde "Guernica" Bezug nimmt und vor über 30 Jahren entstanden ist. Ergänzt wird die Ausstellung durch drei Beispiele seiner neuen Serie "Flüchtige Erinnerungen".

 

Es gibt nicht viele Möglichkeiten, eine derart monumentale Arbeit wie Norbert Pümpels "Wahrscheinliche Aussage zu einem Guernica des späten 20. Jahrhunderts" öffentlich zu präsentieren. Der exquisite Ausstellungsraum der Galerie allerArt in der Remise Bludenz scheint hingegen geradezu prädestiniert dafür zu sein. Das Werk besteht aus 24 einzelnen Blättern in schwarzen Rahmen, die in der Zusammenstellung das beachtliche Maß von 3,6 mal 8 Meter (Höhe mal Breite) erreichen. Entstanden ist das Werk, an dem der Künstler über ein Jahr arbeitete, 1981/82. Der Tiroler, der anstatt eine Kunstakademie zu besuchen, Mathematik, Physik und Philosophie studiert hat, gehört zu den wenigen Kunstschaffenden, deren Werk von naturwissenschaftlichen, quantenphysikalischen und philosophisch-theologischen Problemstellungen durchdrungen scheint.

 

Außerhalb der Zeit

Er, der Zahlen- und Wissenschaftsgläubige, stand damals ganz unter dem Eindruck der Nuklearforschung und des Kalten Krieges, wohl wissend, was ein Weltkonflikt mit moderner Kriegstechnik auslösen könnte. In einer Zeit, als die Jungen Wilden ihr figuratives Unwesen trieben, reagierte Pümpel mit einem Anti-Bild auf die Bedrohung der Zeit. Picassos berühmtes "Guernica" vor Augen, malte, oder besser zeichnete er dieses weiter und quasi zu Ende, indem er es in ein dichtes System von Zeichen auflöste. Picassos konkrete, bildhafte Anspielungen löste er gleichsam in ein atomares Chaos auf. Formal geschah dies, indem er das Papier mit verlängerten Stiften unkontrolliert malträtierte. Jedes der 24 Blätter übersäte er mit jeweils drei Schichten von gleichsam hinaufgetrommelten, stakkatoartig gesetzten Strichen. Aus künstlerischer Sicht bewegte er sich außerhalb der Zeit, denn er verweigerte sich radikal den damals gültigen figurativen Trends. Der Pümpel-Kenner Harald Kimpel bezeichnet dieses vielteilige Chaos-Werk als "ein unendliches Panorama der Entropie".

Viele der nachfolgenden Serien des in Vorarlberg heimisch Gewordenen haben ihre Wurzeln offensichtlich in diesem großen Ursprungsbild, das thematisch aktueller denn je ist und sich auch den Weg in eine Museumssammlung verdient hätte.

 

Flüchtige Erinnerungen

Nimmt "Wahrscheinliche Aussage zu einem Guernica des späten 20. Jahrhunderts" die gesamte Hauptwand der Galerie allerArt in Anspruch, so wirken die drei kleinen Arbeiten aus der neuen Serie "Flüchtige Erinnerungen" (Fleeting Memorials) an der gegenüberliegenden Wand wie eine das Hauptbild ergänzende "Signatur" des Künstlers. Die zwei Seitenwände hingegen sind freigelassen und verstärken durch ihre Leere die Aussagen des Guernica-Bildes Pümpelscher Prägung.

Pümpelt arbeitet bereits seit bald drei Jahren an den "Fleeting Memorials". Die Arbeiten tragen jeweils drei Zahlenangaben auf sich: ein Datum, eine Uhrzeit und die jeweils für genau diesen Zeitpunkt offiziell errechnete Weltbevölkerung. Wobei die Angaben zur Weltbevölkerung einem via Internet verfügbaren statistischen Programm entstammen. Der Rest des Bildes besteht aus abstrakter Malerei auf doppelt geschichtetem, chinesischem Reispapier. Inhaltlich könnten es Porträts von den jeweils zuletzt erfassten Personen sein, oder Gesamtporträts der jeweiligen Weltbevölkerung, aufgelöst und verschwommen in einer farblichen Substanz, oder einfach ein Abstraktum mit theoretischem Hintergrund. Zentrale Bedeutung kommt dabei der Malerei zu. Pümpel verwendet verdünnte Ölfarben. Wobei der darin enthaltene Ölleim eine zerstörerische Wirkung besitzt und den Bildträger, das chinesische Reispapier, im Laufe der Jahre zersetzt. Aus diesem Grund sind die Papierarbeiten auch gerahmt: Das zerbröselnde Papier kann sich im unteren Rahmenbereich zu kleinen Häufchen sammeln. Das gemalte Bild wandelt sich also zu einem nur noch aus winzigen Papierteilchen bestehenden Wandobjekt. So wie sich also die Weltbevölkerung in jedem Augenblick ändert, verändert sich auch das Bild in der Achse der Zeit. Jeder Zustand des Bildes ist nur vorübergehend, löst sich in „flüchtige Erinnerungen“ auf.

Karlheinz Pichler 2014

Aufbau der 24-teiligen Installation Wahrscheinliche Aussage zu einem Guernica des späten 20. Jahrhunderts, in der Galerie allerArt in Bludenz 2014

Ohne Titel, 2016

 

Ohne Titel, 2016


Ausstellungsbericht PARNASS 3/2016

 

Beeinflusst von zeitgenössischer Physik und Erkenntnistheorie, untersucht Norbert Pümpel

die Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis angesichts einer sich uns entziehenden Wirklichkeit.

Im Bildraum 01 präsentiert er Fleeting Memorials, einen veränderlichen und vergänglichen

Arbeitszyklus aus feinen Papierschichten, organischen und anorganischen Substanzen. Die

Referenz auf die Weltbevölkerungszahl zum Zeitpunkt der Entstehung des jeweiligen Bildes

bildet ein weiteres Abstraktum mit theoretischem Hintergrund. Pümpel verknüpft das

Problem unserer Endlichkeit mit ebenso unkalkulierbaren, physikalisch-chemischen

Sachverhalten und macht das Phänomen der Zeit, die Nichtwiederherstellbarkeit eines

vergangenen Zustands, als einmaligen Augenblick in seiner Ausstellung erfahrbar.

 

Bildraum 01 Wien, Fleeting Memorials 2016